Aktuelles
Auf den Spuren des schwarzen Wassers
Von Karen Krüger
F.A.Z., 15.05.2023, Feuilleton
Vor mehr als fünfzig Jahren wurde es als Ort der Begegnung zwischen italienischer und deutscher Kultur und Wissenschaft eröffnet: Was macht eigentlich das Deutsche Studienzentrum in Venedig heute?
Während ihrer Zeit in Venedig malte die Künstlerin Sophie Schmidt eine Schutzmantelmadonna. Sie sieht stolz und nachdenklich aus. Der Mantel umfließt sie wie das Lagunenwasser die Häuser Venedigs und wirft so viele Falten wie die Vorhänge auf dem Markusplatz. Zu ihren Füßen in hochhackigen Stiefeletten wachsen Muscheln, an Schultern und Beine drängen sich zarte Silberreiher. Im Bauch der Frauenfigur sind Vogel-Embryonen zu sehen. Inspiration für das 2021 in Tinte und rotem Aquarell gemalte Bild war Paolo Venezianos "Madonna mit Kind und zwei Stiftern". Es hängt in den Gallerie dell'Accademia, nur wenige Gehminuten vom Deutschen Studienzentrum Venedig, dem Centro Tedesco di Studi Veneziani, entfernt.
Seit fünfzig Jahren schärfen Künstlerinnen wie Sophie Schmidt dort Sichtweisen und Talente, gehen Nachwuchswissenschaftler ihren Forschungen nach. Finanziert wird es hauptsächlich von der Staatsministerin für Kultur und Medien. Ein mit deutschen Steuergeldern bestrittener Elfenbeinturm in Italien, noch dazu an einem der schönsten Orte der Welt? Mitnichten. Das "Centro" ist eine der wichtigsten Institutionen im deutsch-italienischen Kulturaustausch. Die Lesungen, Podiumsdiskussionen, Konzerte, Ausstellungen bei den "Tedeschi", den "Deutschen", sind für viele Venezianer feste Termine in ihrem Kulturkalender. Was sie im Centro erleben, bietet oft einen Vorgeschmack auf etwas, das später ein breites, sogar internationales Publikum erreicht. Das Chorstück "Alas de Noches" ("Flügel der Nächte") der in München lebenden mexikanischen Komponistin Diana Syrse beispielsweise - komponiert 2022 in Venedig, im Februar vom Los Angeles Master Chorale uraufgeführt. Oder Leona Stahlmanns viel besprochener Roman "Diese ganzen belanglosen Wunder" (dtv 2022), in dem die Lagunenstadt schon zu weiten Teilen unter Wasser steht und an dem sie während ihrer Zeit am Centro schrieb. Der Rechtshistoriker Kevin Kulp wiederum nutzte sein Stipendium, um in Venedigs Archiven zum Umgang mit Kindesmissbrauch in der Kirche der Vormoderne zu recherchieren - die Studie wird Anfang nächsten Jahres veröffentlicht.
An diesem Abend hat das Centro zu einem "Artist Talk" eingeladen: Sophie Schmidt, Jahrgang 1986, ist knapp zwei Jahre nach ihrer Residenz zurück im Palazzo Barbarigo della Terrazza und präsentiert das Buch, das ihre dort und anschließend in Taipeh entstandenen Arbeiten dokumentiert. Gut vierzig Besucher haben auf den Stühlen im ersten Stock Platz genommen. Die Wände zieren in Stein gefasste Wappen der Barbarigo-Familie, von der bemalten Holzdecke hängen weiße Lüster aus Muranoglas. Die Künstlerin und Performerin erläutert im Gespräch mit Petra Schaefer, Kunsthistorikerin und Assistentin der Direktion, ihre Werke. Das Verbindende ihrer Gemälde und Collagen sei Wasser. Sicherlich, als Summe eines monatelangen Venedig-Aufenthalts klingt das nicht sehr originell. Schmidt hat aber nicht nur das Malerische, Umgarnende, sondern stärker noch das Bedrohliche, Bedrängende an Venedigs Wasserwelt eingefangen. Sie zeigt sich immer wieder stärker als der Mensch; das Wasser leckt an Mauern, löst Grenzen auf, steigt hoch in die Gebäude, vermählt Räume mit Pflanzen, Tieren, lässt alles flüchtig werden und verschwimmen.
Aus dem Körper einer Muschel
In Venedig zu leben heißt, dem Wasser ausgeliefert zu sein. Es hat alle und alles in seinem Griff, bedeutet ein Leben mit dem Tod, und diese Ambivalenz kann man in Sophie Schmidts Bilderwelten wunderbar spüren. "In ihren Bildern scheint das Wasser durch alle Kreaturen Venedigs hindurchzuströmen", sagt Petra Schaefer. So liest sich auch die an diesem Abend gehaltene Performance von Sophie Schmidt. Sie steigt auf ihren Stuhl, auf dem Kopf einen selbstgebastelten Helm aus venezianischen Alltagssymbolen wie Espressokanne, Radicchio und Eiern; sie singt, sie flüstert, rezitiert Textminiaturen, die ihre Gemälde und Collagen begleiten: "Ich versuche, die Stadt aus dem Körper einer Muschel zu begreifen, die hier am Fuße des Palazzo Barbarigo della Terrazza mit mir lebt. Ich verlasse meine Schale und werde weiches Muschelfleisch, das durch die Stadt bewegt wird; alles drückt sich ein, hinterlässt eine Spur in diesem weichen Fleisch, das ganz zu seiner Umgebung wird." Das Publikum schaut atemlos zu. Schenkt stehenden Applaus. Danach gibt es Prosecco.
Er wird nebenan im Salotto, dem Musik- und Lesezimmer gereicht. Angeregtes deutsch-italienisches Stimmengezwitscher über Sophie Schmidt, Anerkennung für Petra Schaefer und die Direktorin, die Romanistin Marita Liebermann, die im Juni nach sechs Jahren ihren Posten an den Musikwissenschaftler Richard Erkens übergeben wird. Die Themenpalette der Stipendiatinnen und Stipendiaten reicht von Venedig-Klassikern wie Dogen, Renaissance oder die venezianische Republik über Ereignisse der jüngeren Vergangenheit wie die Biennale, Migration, Klimawandel, Anthropozän. Vieles, was global passiert, lässt sich in der Lagunenstadt wie unter einem Brennglas studieren. "Was hier entsteht und geforscht wird, hat immer mit unserer venezianischen Identität zu tun. Und klar, solche Abende helfen Venedig auch, eine Stadt zu bleiben", sagt ein Abendgast und fügt in verschwörerischem Ton hinzu: "Auch mein zugezogener Mann hat anfangs das viele Wasser hier gehasst." Der Architekt Francesco Callegari ist mit Filippo Trevisanello zum Artist Talk gekommen. Trevisanello hat eine Rahmenwerkstatt neben dem Guggenheim Museum. Beide sind Venezianer von Geburt. Trevisanello deutet auf die Rubelli-Wandbehänge des Salotto. "In vielen Palazzi ist für die Touristen alles erneuert worden. Hier hat man Sinn für Altes gezeigt." Gäbe es mehr solcher Institute, ginge es Venedig besser, meint er. "Man merkt den Deutschen ihre Liebe für die Stadt an."
Deutsche Venedig-Leidenschaft
Sie war tatsächlich der Gründungsimpuls. Das Hochwasser von 1966 hatte verheerende Schäden angerichtet. Die spontane Unterstützung bundesrepublikanischer Organisationen war beachtlich und letztendlich der Anstoß, der deutschen Venedig-Leidenschaft, die seit dem Mittelalter Kunst und Wissenschaft nördlich der Alpen beeinflusst, einen institutionellen Rahmen zu geben. Mithilfe der Fritz Thyssen Stiftung wurde der Palazzo gekauft und renoviert, 1970 der Verein "Deutsches Studienzentrum Venedig" gegründet, 1972 zogen die ersten Stipendiaten ein. Aktuell leben und arbeiten dort das ganze Jahr über in wechselnder Besetzung zwei Künstler und sechs Nachwuchswissenschaftler. Vertreten sind vor allem die Fächer Kunst- und Musikgeschichte, Geschichte und Literaturwissenschaft. Interdisziplinarität ist Programm - das macht das Centro im Vergleich zu anderen im Ausland betriebenen Einrichtungen zur Kulturförderung besonders. Oft ist der Austausch zwischen den Stipendiaten produktiv. Der Künstlerin Sophie Schmidt etwa wurde von einem Mitstipendiaten, einem Kunsthistoriker, jede Woche ein Foto eines venezianischen Kunstwerks oder ein Eintrag aus dem deutschen Aberglaubenbuch zurechtgelegt, mit dem sie dann arbeitete. Tintorettos "Taufe Christi" oder der Aberglaubenbucheintrag über das Wasser.
Jeder hat sein eigenes Zimmer, Treffpunkte sind die Bibliothek und Gemeinschaftsküche, der Salotto (gewissermaßen das WG-Wohnzimmer) oder die große Terrasse über dem Canale Grande. Wer die Verfilmungen der Commissario-Brunetti-Romane gesehen hat, erkennt sie wieder. Im Film wohnt Brunetti direkt gegenüber am Rio San Polo. In Szenen, die ihn auf seiner kleinen Dachterrasse zeigen, sieht man schräg dahinter jene des Centro. Auch jetzt am Abend ist die Aussicht von dort atemberaubend, ganz gleich, wohin sich der Blick auch richtet: Rechts die Silhouette der Universität Ca'Foscari, der Zwillingspalast Guistinian, der Glockenturm vom Markusplatz, links die Kurve des Canal Grande, die zur Rialto-Brücke führt. Das Wasser ist schwarz und ruhig, so ruhig wie jetzt die ganze Stadt. Die Gondolieri der Traghetto-Anlegestelle gegenüber haben ihren Dienst schon beendet. Nur ein Vaporetto wühlt das Wasser noch auf.
Kaffee am nächsten Morgen in der Gemeinschaftsküche. Auf dem Tresen liegt Sophie Schmidts ramponierter Performance-Helm wie der Überrest einer aus dem Ruder gelaufenen Party. In Venedig heißt es, die Möwen schreien nachts lauter, wenn das Wetter schlechter wird. Man ist sich einig: Die Vögel waren still. Venedig hat trotzdem zu den Stipendiaten gesprochen. Das Schwappen des Wassers am Fuß des Palazzo war, wie immer, zu hören. Genau wie die Glocken von San Polo. Ebenfalls sehr früh: das Müllboot. Das Frühstück jetzt klingt deutsch: Müslischalen klappern, der Smoothiemixer surrt. Energy Food für einen langen Tag in der Bibliothek oder im Archiv.
In Venedig nimmt das überwältigt werden von Schönheit kein Ende. Sie lauert hinter jeder Ecke, in den Gassen, in denen man sich verläuft und wiederfindet. Die Stadt ist eine ständige Versuchung. "Ich habe mir deshalb vorher genau überlegt, was ich hier arbeiten möchte und was ich sehen will", sagt die Schriftstellerin Elke Heinemann. Sie wohnt in der Atelierwohnung, die das Centro für die Kunststipendiaten angemietet hat. An der Wand hängt ein Stadtplan, daneben ein Foto der Geigerin Olga Rudge aus den Zwanzigerjahren. Wegen ihr ist Elke Heinemann in der Lagunenstadt. Rudge war gut fünf Jahrzehnte lang die Geliebte des Dichters Ezra Pound. Sie brachte sein einziges leibliches Kind, Mary de Rachewiltz, auf die Welt und pflegte ihn, nachdem er als körperliches und psychisches Wrack zurück aus einer amerikanischen Nervenheilanstalt nach Venedig kam, in das er sich als junger Mann verliebt hatte und wo er 1972 starb. Olga Rudges Haus liegt nicht weit vom Palazzo entfernt. Dort versuchte sie, Pound zum Sprechen zu bringen. Sie drückte auf die Aufnahmetaste eines Kassettenrekorders und sagte: "Ezra, speak!" Manchmal sagte sie auch: Jetzt reiß dich mal zusammen, Ezra!
Es gibt diese Bänder noch. Elke Heinemann hat Ausschnitte für ihr Radiofeature "Ezra Pound Reloaded. Was vom Dichter übrig bleibt. Nachgesang" verwendet. Nur ein Bruchteil ihres Materials kam darin vor. Heinemann hat seitdem weiter damit gearbeitet. Sie lässt das Thema nicht los: Da ist ein Künstlerpaar, der Mann wird ein weltberühmter Dichter , während die Frau, die bei ihrer ersten Begegnung weitaus bekannter war, am Ende kein Mensch mehr kennt. In einigen der Nachrufe wurde Olga Rudge als Pounds Haushälterin beschrieben. Er vertrat die Ansicht, Frauen redeten zu viel. Als Herausgeber einer Literaturzeitschrift verfügte er, dass keine Texte von Autorinnen mehr veröffentlicht werden - das hebe das Niveau. "Was bedeutet es für die Welt, die Kunst, die Gesellschaft, wenn Männer, die als so bedeutend gehandelt werden wie bis heute Pound, solche Behauptungen vertreten haben? Und was bedeutet es, wenn Frauen sich damit begnügen, in ihrem Schatten zu stehen?", fragt Elke Heinemann. Und über diese Fragen schreibt sie auch
Venedig, wo Pound und Rudge begraben liegen und in deren Mitte ein Platz für die Tochter reserviert ist, hat sicherlich auf das Paar gewirkt. Doch wie? Vielleicht ist es mit der aus dem Meer geborenen Stadt ja tatsächlich so wie von Sophie Schmidt beschrieben: Alles drückt sich ein und hinterlässt eine Spur. Bei manchen Stipendiaten ist sie so tief, dass sie bleiben wollen. Oder sie kehren, so wie seit Jahrhunderten schon unzählige andere deutsche Intellektuelle vor ihnen, immer wieder zurück. Manche bauen sich in der Serenissima etwas auf. Marita Liebermann selbst ist eine Alumna. Ebenso Petra Schaefer. Und Richard Erkens. Bei allen fing es einmal mit Venedigwasser an.
Eine Werkschau von Sophie Schmidt ("Ein schweres Herz muss man sich leisten können") ist noch bis zum 11. Juni im Kunstverein Friedrichshafen zu sehen. Das erwähnte Buch "Sophie Schmidt: "How much Venice Water do you carry in your legs, still? How much Taipeh Water do you feel in the Fields, now?" hrsg. von Marita Liebermann, mit Texten von Marita Liebermann, Clara Stratmann, Petra Schaefer und Sophie Schmidt, München 2022, ist beim Verlag Hamman von Mier erhältlich.
© Copyright
[Artikel]: Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.
[Fotos]: Barbara Klemm